Notes
Cultivating Feminist Choices | Cultivating Feminist Choices | Open Scholarship
Ein (unvollständiger) Reisebericht
Monika Moyrer
Action Reconciliation for Peace
Monika Moyrer is the US program director of Action Reconciliation Service for Peace (ARSP) in Philadelphia. She received her PhD in German from the University of Minnesota and has published on Herta Müller, the FrauenMediaTurm, and Robert K. Eissler. Before joining ARSP she taught German language and literature at different colleges and universities in the US, most recently at Millersville University in Lancaster, Pennsylvania.
Der Duden definiert „reflektieren“ als „(sich) eingehend mit jemandem, etwas beschäftigen.“ In diesem Essay geht es darum, „lange, gründlich, tief [dar]über … nach[zu]denken“ (Duden), wie feministisches Denken sich in meinem Leben und Arbeiten in Bezug zu Ruth-Ellen Boetcher Joeres’ Schriften entwickelt hat. Normalerweise würde ich das Essay auf Englisch schreiben, denn das entspricht den Konventionen des (amerikanischen) akademischen Diskurses, in dem ich mich lange bewegt habe. Durch Englisch gehöre ich dazu…. Aber nur durch Nachdenken in meiner Muttersprache, die mir vertraut ist, geht es letztlich, die Beziehungen zu meiner Doktormutter ehrlich und intensiv zu erforschen. Außerdem ging es in meinem Leben, Denken und Schreiben immer um grundlegende (Um-)Brüche, so dass auch diese Abweichung eine logische Möglichkeit bietet, den Text von einer neuen Seite zu betrachten.
Academic work is inherently conservative inasmuch as it seeks, first, to fulfill the relatively narrow and policed goals and interests of a given discipline or profession … intellectual work, in contrast, is relentlessly critical, self-critical, and potentially revolutionary, for it aims to critique, change, and even destroy institutions, disciplines, and professions that rationalize exploitation, inequality, and injustice. (Olson and Worsham 7)
Wenn ich in knappen Worten erklären soll, was ich gelernt habe, dann ist es die Hinwendung vom akademischen zum intellektuellen Arbeiten. Ruth-Ellens schreibende Entwicklung von der Monografie über Louise Otto-Peters und den Anfängen der deutschen Frauenbewegung bis zu ihrem Buch Respectability and Deviance—das zu Recht als intellektuelle Autobiografie (Stimpson xvii) gelesen worden ist—ist bemerkenswert. Ihre Entwicklung zeigt, wie Denken und Schreiben wahrhaft die Grenzen des literaturwissenschaftlichen Arbeitens sprengen kann. Sie offenbart aber auch das Risiko feministischen Arbeitens: durch authentisches Ringen mit den Quellen und Texten entsteht ein skeptischer Text, der einen vielschichtigen Denkprozess offenlegt und sich somit weit weg vom akademischen Arbeiten positioniert. Ich habe Ruth-Ellens Reflektionen daher als Inspiration und Mahnung gelesen, schonungslos zu arbeiten, Schubladen zu vermeiden und mein Denken stets frisch zu halten. Das will ich auf den nächsten Seiten so ehrlich wie möglich tun.
… how contemporary feminist writers and theorists have moved beyond categories of binary opposition toward more differentiated views of women’s multiple social realities (Clark, Joeres, and Sprengnether 9)
In meinem ersten Frühjahr an der Universität von Minnesota im Jahr 2002 schrieb ich mich in einen interdisziplinären Kurs über Gender ein, den Ruth-Ellen Boetcher Joeres, Mary Jo Maynes, Myra Marx Ferree und Ute Frevert unterrichteten. Ich war zutiefst dankbar, an einem experimentellen Kurs teilzunehmen und einer Vielzahl von Ideen aus Geschichte, Soziologie, Literatur ausgesetzt zu sein. Dieser Kurs war auch in einer anderen Beziehung wegweisend. Hier lernte ich meine beste Freundin kennen. Als sie mich spontan einlud, ihre Familie zu besuchen, nahm ich an und reiste im folgenden Sommer nach Peru, um die touristischen Highlights kennenzulernen. Bis heute erinnere ich mich an das Gefühl, im Morgengrauen, umgeben von einem majestätischen Panorama auf dem Machu Picchu zu stehen. Magisch. Am eindrücklichsten sind mir jedoch die Begegnungen mit Frauen im Sinn geblieben, die im Bereich Gender und Entwicklung arbeiteten und über ihre Projekte und ihr Leben sprachen. Selbstverständlich würde ich zwei Jahre später zurückkehren, um eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Centro de la Mujer Peruana Flora Tristan auszuloten, die leider nicht zustande kam. Trotzdem war es ein Gewinn, peruanische Frauen—wie Virginia Vargas, Gründerin des oben genannten Frauenzentrums in Lima und international angesehene lateinamerikanische Feministin—kennen zu lernen und Projekte zu besuchen, die sich konkret mit reproduktiven Rechten, Sexualität, häuslicher Gewalt, Armut, Gesundheit und Empowerment beschäftigen. Ein Projektbesuch, an den ich mich noch gut erinnere, war beim Gesundheitszentrum in Piura. Soledad, die Projektkoordinatorin, machte mit mir einen Rundgang und erklärte, dass sich das Zentrum auf reproduktive Gesundheit, Mütter und allgemeine oder präventive sexuelle Gesundheit konzentriert. Außerdem hatte ich die Gelegenheit, die Comedores Populares (öffentliche Kantinen) des Viertels zu besuchen, in denen Frauen aus dem Stadtteil für die Zubereitung eines Essens zuständig waren, das sie günstig an die Bewohner des Viertels verkauften (ein staatliches Programm, das zusammen mit Vaso de Leche zur Bekämpfung von Unterernährung eingerichtet wurde). Es war schön, zu sehen, dass es auf lokaler Ebene konkrete Ansätze gibt, die von Frauen für Frauen bestimmt waren.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass meine Besuche in Lima und Piura mein Bewusstsein dafür geschärft haben, dass feministischer Aktivismus direkt mit den vielfältigen Lebensrealitäten von Frauen in Berührung kommen muss. Ich habe besser verstanden, wie eng soziale und ökonomische Ungleichheit, Zugang zu einer preiswerten Gesundheitsversorgung, Bildungsprivilegien und Geschlecht zusammenhängen und bei der Lösung von sozialen Problemen zusammen gedacht werden müssen. Ich habe gelernt, eine für mein Verständnis andere Art von feministischer Arbeit zu respektieren. Dennoch: Reisen, Interviews, feministische Projektbesuche sind schön und gut, waren aber letztendlich nicht nützlich für mein damaliges Hauptfach. Die Hauptfrage, die sich beim Reisen immer wieder herauskristallisierte, lautete: wie bringe ich eine starke feministische Entschlossenheit offen und deutlich in meine eigene Forschung ein, ohne eine distanzierte Kritikerinnenrolle einzunehmen? Wie beziehe ich bei meiner Analyse und Interpretation von literarischen Texten die komplizierten „multiplen sozialen Realitäten“ (meine Übersetzung; Clark, Joeres, and Sprengnether 9) von Frauen ein? Wie folge ich dem Beispiel von Ruth-Ellen, der die Verbindung von Lebenswelt und rigorosem intellektuellem Arbeiten ein Leben lang am Herzen lag?
Approximations, limitations, indirect, skeptical readings and interpretations (Joeres, Respectability xxiii)
Der Kurs, von dem ich vorher sprach, passierte per Video simultan auf zwei Campus. Die Texte und Diskussionen waren dermaßen interdisziplinär, dass einem der Kopf rauschte. Und dennoch war dieses Seminar für mein feministisches Denken konstitutiv: ich schrieb, recherchierte und warf mich mit Elan ins akademische Geschehen. Heraus kam ein Essay über Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T., über das ich berichten möchte. Das Essay untersucht weibliche Subjektivität im Sozialismus. Es geht auch um die Frage, wie das Schreiben über die Lebenswelt von Frauen mit einer ideologisch vorgefertigten Schreibweise in Einklang zu bringen ist. Es ging mir darum, wie man Realität in Erzählungen oder fiktionalen Texten untersucht, wenn eine bestimmte ideologische Erwartungshaltung im Raum steht. Ich war fasziniert davon, wie Christa Wolf ihre eigene feministische Lösung zu dieser Frage anbot, indem sie auf der Wertigkeit der weiblichen Subjektivität bestand. Wolf hatte am Bitterfelder Weg Programm teilgenommen, bei dem Intellektuelle von der DDR-Regierung ermutigt worden waren, die Welt der Produktion und der Arbeiter unmittelbar zu erleben und Romane zu schreiben, die auf diesen Erfahrungen aufbauen. Natürlich war die Idee der Ideologie des sozialistischen Realismus untergeordnet und es wurde erwartet, dass Literatur die soziale Realität widerspiegeln (und das auf eine Weise, wie der Staat sie definierte) und nicht auf die als bürgerlich sentimental, individuell oder subjektiv empfundenen Probleme eingehen soll.
Angesichts dieser Prämissen muss Christa Wolfs Versuch, die konstruierte Fiktion des sozialistischen Realismus abzulehnen, indem sie auf Persönliches zurückgreift und das narrative Prinzip der subjektiven Authentizität verwendet, als mutiger Versuch gelesen werden. Ihr Roman Nachdenken über Christa T. (1968) wurde zu einem Wendepunkt in der DDR-Literatur, weil er eine Alternative zu den vorherrschenden Lehren darstellte. Wolf beanspruchte ausdrücklich das Recht auf Subjektivität, das sie in einem humanistischen Sozialismus verwirklicht sah, und forderte das sozialistisch-patriarchalische Denken heraus. In „Selbstversuch“ (1973) kritisiert sie mutig die marxistisch-leninistische Partei und die patriarchalischen Formen, die sich aus einer von Männern dominierten Führung entwickelten. Das Stück verbindet eine utopische Vision mit einer Kritik an Konformismus, Karrierismus, Bürokratisierung und Technokratie. Weibliche Erfahrung wird als eine Alternative zur Aneignung der Welt gesehen. Mit ihrer radikalen Kritik am sozialistischen Patriarchat versucht Wolf eine neue und autonome Dimension der weiblichen Subjektivität als Beitrag der Frau zur Erneuerung der DDR einzufügen. Für mich war es spannend zu sehen, wie Wolf nachdenkt—der Titel lautet schließlich „Nachdenken über Christa T.“—indem sie die Handlungen ihrer Freundin nachvollzieht (also rational daran herangeht) und gleichzeitig Trauer- und Gedächtnisarbeit leistet. Was mich bei Christa Wolf damals und heute fasziniert, ist die subjektive Herangehensweise, die die Leserinnen auffordert, Lebensereignisse, Urteile, Überlegungen und Interpretationen selbst zusammenzuführen. Bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass die Gebrochenheit der Form, das nichtlineare und fragmentarische Denken bereits damals ein Thema war, mit dem ich mich identifizieren konnte. Es ist von dem Moment an zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit und meines Selbstverständnisses geworden. Das würde sich in meiner Begeisterung für Collage als Form, für Risse und Brüche in Lebensentwürfen und vor allem für diasporische Identität zeigen.
Damals war ich daran interessiert herauszufinden, wie feministisch diese Schreibweise bewertet wird. Ich wurde nicht enttäuscht. Literaturkritikerinnen sahen ebenso, dass Wolfs Schreibstil zutiefst feministisch ist, weil die prominente DDR-Autorin sich der selbstunterbrechenden Kommunikationsmethode bedient, um eine herrschaftsfreie Beziehung auszuloten. Durch den fragmentarischen Stil der subjektiven Aneignung gelang es Wolf, Spuren einer sporadischen und unvollständigen Beziehung in den Vordergrund zu stellen und kein vollständiges Bild anzubieten.
Wolfs offen feministische Haltung ist bemerkenswert. Sie beruft sich auf ihre eigene Subjektivität und bettet die Kritik an Christa T.s Tod—die an einer Krankheit gestorben ist, die der Madame Bovarys ähnelt, weil die sozialistische Geschlechtsidentität keine Selbstentwicklung zulässt—in ihre damalige sozialistische Zeit ein, um sie von innen heraus zu verbessern.
I have gone from the joyful and fairly unproblematic task of rediscovering women writers to the far more skeptical, dubious, ambivalent work of thinking about those writers from a critical vantage point that is marked by the increasing complexity of feminist thought, the pessimism of postmodernism, and my own broadening interests. (Joeres, Respectability xx)
Fremdheit und Sich-nicht-zu-Hause fühlen ebenso wie Mehrsprachigkeit und Grenzüberschreitung haben mich seither stetig begleitet. So ist es keine Überraschung, dass ich sie auch bei derjenigen Autorin vorfand, über die ich im Detail, unter Ruth-Ellens Anleitung, forschte und schrieb. Bemerkenswert ist dabei, dass auch bei mir die Entwicklung ähnlich wie in Ruth-Ellens eloquentem Zitat ausgedrückt verlief. Bei Christa Wolf war der feministische Bezug für mich analysier- und darstellbar. Ich steckte nicht drin, sondern konnte ihn von außen kühl analysieren. Bei Herta Müller, der Protagonistin meiner Dissertation, weniger. Es war mühsam. Müller ist eine spröde Autorin, die sich Labels widersetzt. Auch dem feministischen.
Das liegt zum einen daran, dass Müller erst seit Ende der 1980er Jahre aus der Sicht einer anerkannten Autorin schreibt. Ihre Bücher und Geschichten davor, die in den siebziger und frühen achtziger Jahren spielen, als sie (noch) nicht berühmt war, können als radikale Schriften gelesen werden, die eng verknüpft sind mit einer existentiellen Überlebenssituation. In einem Interview mit der rumänisch-deutschen Journalistin Annemarie Schuller, das 1984 in Rumänien veröffentlicht wurde, spricht sie über die Bedeutung ihrer weiblichen Figuren, verneint jedoch, dass das Leben von Frauen schwieriger sei als das von Männern. Darin unterstreicht Müller die Wichtigkeit einer subjektiven Geschichte und betont stattdessen die Kräfte, denen diese Frau (in diesem Fall Inge) unterworfen ist. Inge passe, sagt Müller der Journalistin, nicht in die Gesellschaft, sie passe aber auch nicht in ihre eigene Geschichte. Schließlich verwehrt sich Müller der subjektivemphatischen Betrachtung, die Wolf als Annäherung an Christa T. wählte, wenn sie sagt, sie schreibe kein Buch über Inge, sondern sie schreibe immer nur einzelne, unabgeschlossene Texte (Schuller 121).
Für Müller ist es zwar, wie für Wolf, auch wichtig, über Frauen zu schreiben, die Außenseiterinnen sind. Im Unterschied zu Wolfs Christa T., die nicht in ihre sozialistische Gesellschaft passt und an der Gesellschaft zugrunde geht, schreibt Müller über Frauenfiguren, die sich selbst fremd sind. Diese Müllerschen Frauenfiguren scheitern in der Selbsterkenntnis, weil sie von außen Kräften, Situationen oder Bedrohungen ausgesetzt sind, die ihre Selbsterkenntnis stören. Dieses Sich-selbst-fremd-sein resultiert in fehlender Introspektion, die dann auch nicht von außen gedeutet werden kann. So kommt es, dass ich selbst als Interpretin oft ratlos danebenstand und die Texte nur schwer mit meinem vorherigen Raster deuten konnte.
Wenn Müller in ihren Texten über weibliche Hauptfiguren schreibt, geschieht das—so wie bei Wolf—durch Fragmente, die sich dieser Figur nähern, sie aber niemals begreifen. Ihre weiblichen Figuren sind auto-fiktional: im Unterschied zu Wolf, die sich ihrer Freundin/Hauptfigur nähert und versucht, Christa T. zu verstehen, steckt Müllers Erzählerin tief in den weiblichen Figuren drin, die sie porträtiert. Es gibt für die Erzählerin keine sichere Entfernung, keine Abgrenzung, sondern sie befindet sich mittendrin in den verstörenden Geschichten. Das produziert wiederum Fragmentarisches. Außerdem überlappt das Biografische mit dem Ästhetischen und mir als Interpretin bleibt kein einfühlender Ansatz, mit dem ich mich der Interpretation nähern kann.
So nehmen die erklärenden Selbstaussagen der Autorin Müller eine zentrale Rolle in der Deutung ein. Zum Beispiel wenn sie erzählt, wie sie aus dem Dorf in die Stadt kam und keinen Kontakt zu den Stadtbewohnern aufnehmen konnte. Es blieb ihr das Schreiben als Kommunikationsersatz. Sie enthüllt, dass sie ihre Kindheit durcharbeiten musste, um eine Stimme, eine Sprache zu finden. Unter Bedingungen der Isolation, weil die Erfahrungen aus dem Dorf keinen unmittelbaren Kontakt mit den Stadtbewohnern zulassen, ist Schreiben ihr Zugang zu sich selbst. Müllers Art, sich mit Erfahrungen, Erinnerungen und Beobachtungen auseinanderzusetzen, ist daher ästhetischer Natur und geschieht oft durch Sprache.
I cannot maintain a position as removed academic feminist critic looking at past lives and thoughts as if under a microscope, and report what I see in an assertion of my belief in my ability to read correctly. (Joeres, Respectability xxii)
Für die Autorin Müller wird das Genre der Collage zum künstlerischen und persönlichen Instrument, das einen logischen inneren Zusammenhang zu ihrem Denken aufweist. Wie im vorherigen Abschnitt erläutert, spricht die Autorin selbst, als sie noch in Rumänien wohnt, von der sprachlosen Kindheit und dem vorsichtigen Prozess der Selbsterkenntnis durch Sprache. Diese wird verstärkt unter dem direkten Eindruck der Überwachung durch die Geheimpolizei. In diesem Kontext benutzt Müller Collage als Metapher für ihren inneren Zustand, als existentielle Grundhaltung, in dem sich Fragmente von Gefühlen, Wahrnehmungen und Empfindungen ungeordnet zusammenfinden, und folgert: „Es ist eine Collage in mir geworden“ (Henke 13).
Was ich an Müller schätze, ist, dass sie mit ihrem Bild der inneren Collage an eine der grundlegenden Erfahrungen der Moderne anknüpft. Es geht um die Verbildlichung der Zerrissenheit des Subjektes, der Spiegelung der Heterogenität der Lebensumstände, sowie des bruchstückhaften Sinnzusammenhangs. Das ist eine Erfahrung, die sie nicht als singuläres Individuum macht, sondern die von Vielen erfahren worden ist. Im Unterschied zu modernen Vorbildern geht es Herta Müller bei ihrem Bild der inneren Collage nicht um die tiefenpsychologische Ebene, das Unbewusste oder die écriture automatique der Surrealisten, sondern um das Zurücknehmen ihrer Autorschaft, das konstruktivistische Prinzip der Assemblage und Montage sowie das Primat der Dinge. In der Collagearbeit nehmen einzelne Dinge und Wörter eine besondere Bedeutung an und verbinden sich auf ihre Weise ohne Zutun der Autorin.
Zum ersten Mal thematisiert Herta Müller Collage in künstlerischhandwerklicher Weise in Reisende auf einem Bein (1989). Es ist die Abhandlung einer Frau, Irene, die sich im angekommenen Land nicht integrieren kann. Irene schneidet zuerst Fotos aus Zeitungen aus und klebt sie auf Packpapier. Dieses Collagieren, meine ich, spiegelt zum einen den entfremdeten Zustand der Hauptfigur. Zum zweiten erscheint für die Emigrantin Irene schneiden als geeignete Möglichkeit, sich ihre neue Wirklichkeit zu erschließen. Collage versetzt sie in die Lage, Mitgebrachtes und Neues nebeneinander zu stellen, so dass ungewöhnliche Zusammenhänge (Gegensätze) entstehen, die das Heterogene und Fremde nicht überdecken. Kleben erscheint in dieser Perspektive als gebrochener Spiegel, als Artikulation der Annäherung an die neue Umgebung, die sie sich durch Zusammenstückeln aneignet.
Die Bruchstückhaftigkeit der einzelnen Collageteile interpretiere ich auch als Absage an eine mono-linguale und mono-kulturelle Wahrnehmung, welche von Einwanderern Anpassung in einer bestimmten Form erwartet. Irene stellt dieser Erwartung zum einen ihre eigene Wahrnehmung entgegen, zum anderen fragmentiert und entfremdet sie die vorhandenen bundesdeutschen Zeitungsausschnitte. Signifikant ist, dass Irene die deutsche Sprache—als Rumäniendeutsche—bereits mitbringt, denn sie versteht die Buchstaben und Laute, aber dass sie die in der bundesdeutschen Gesellschaft gesprochene und dort verankerten Ausdrücke der deutschen Sprache nicht kennt. Sie sucht sich deshalb aus den bundesdeutschen Zeitungen und Zeitschriften Sprachsplitter und Bildfetzen aus, die sie ansprechen.
Wie Herta Müller später über ihre Collagen denkt ist insofern relevant, als es eine Entwicklung zeigt, die mich aus dem am Anfang erfahrenen Interpretationsdilemma befreit hat. Ihr Schreiben als Prozess zu verstehen und Collage als handwerkliches Mittel UND ästhetische und künstlerische Art sich auszudrücken, war ungemein befreiend. So wie Müller sich geschickter und cleverer ausdrückte, konnte auch ich präziser formulieren. Für mich war das Essay Der König verneigt sich und tötet (2003) ein Aha-Erlebnis, denn hier nimmt sie—in besonders kluger Weise—eine Genealogie ihrer Poetik anhand der Genese der Collage vor. Von diesem Standpunkt aus versteht Müller Collage nicht mehr allein als inneren Prozess, bildliche Botschaft oder Spiegel der verwundeten Figur Irene, sondern setzt diese als bewusstes Instrument ein. Zum Beispiel montiert sie Collagegedichte in ihr Essay hinein, um die ambivalente Funktion der Collage zu demonstrieren: den inneren Zusammenhang zur Idee der Collage und den Kontrapunkt dazu, die Unterbrechung einer linearen, chronologischen Erzählweise durch das Collagegedicht. Damit erscheint Collage nicht mehr nur als äußere Doppelung der inneren Sehweise, sondern als strategisches ästhetisches Stilmittel der Autorin Herta Müller. Das zu erkennen, war für mich persönlich ein Durchbruch. Ab hier konnte ich wieder über sie schreiben, bruchstückhaft zwar, aber mit einer neu entwickelten Stimme.
Ich entdeckte auch den Vorteil des Klebens von Collagen. Im Gegensatz zum mühsamen Schreiben (was ich jetzt auch so erlebe) erlaubt das Collagieren Leichtigkeit, außerhalb ihrer Selbst zu agieren. Es fällt Müller leichter, Collagen zu kleben als Prosa zu schreiben, denn das Sprachmaterial ist bereits vorhanden. Für Müller wird das Kleben einer Collage daher zum Turnen, zur sportlich-körperlichen Betätigung auf einem ganz anderen Feld, das losgelöst ist von den Begrenzungen, Einschränkungen und Sachzwängen der Prosa. Das ist es, was ich letztendlich an Müller schätze. Nachdenken bedeutet nicht nur eine intensive Beschäftigung mit dem Stoff, sondern es geht oft darüber hinaus. Es verbindet sich mit banalen alltäglichen Dingen, wie dem Turnen, die oft sogar humorvoll daherkommen und das Nachdenken stören. Das ist das höchste Maß an lustvoller Freiheit, das eine Schriftstellerin erreichen kann, vor allem eine, die nicht gerade für leichte Lektüre bekannt ist. Und hier bin ich wieder beim feministischen Impuls angelangt. Für mich drückt sich der Müllersche Feminismus durch Bewusstmachen ihrer agency aus. Selbst Hand anzulegen (durch Collagieren) zeichnet sich nicht durch gesellschaftskritische Analyse am Patriarchat aus, sondern bedeutet im Müllerschen Universum ganz konkret, Macht durch Worte an denjenigen Angstgegnern auszuüben, die sie einst in Angst und Schrecken hielten.
Im letzten Teil über Müllers Collagen möchte ich auf ein spezifisches Wort eingehen, das für die Autorin eine ganz besondere Bedeutung gewonnen hat, nämlich die „Mokkatasse.“ Kaum jemand kennt und benutzt dieses Wort heute noch. In Müllers Werk taucht es in verschiedenen Texten, Variationen („Knorpeltasse“) ja sogar Sprachen auf (unter anderem als rumänische „ceasca de moca“). Daher war ich neugierig und habe mich auf die Suche begeben. Weg vom Machu Picchu hin in heimatliche Gefilde. Spätestens an dieser Stelle muss ich gestehen, dass meine Biografie sich mit Müllers in einigen Punkten überschneidet: in Rumänien geboren, das kommunistische Regime noch erlebt und nach Deutschland ausgereist. Die Sprachen, die wir sprechen, die Identität als Rumäniendeutsche und die intensive Auseinandersetzung mit Heimat sind nur ein paar Berührungspunkte.
Warum hat dieses Wort Müller fasziniert? Weil „Mokkatasse“ ein Wort ist, das eng mit Oskar Pastiors persönlicher Geschichte verbunden ist. Büchnerpreisträger Oskar Pastior ist ein weiterer Dichter aus Rumänien, mit dem sie an ihrem Roman Atemschaukel (2009) zusammengearbeitet hat. Für Herta Müller wird dieses grenzüberschreitende Wort, das sich loslöst aus Diskursen der Erinnerung und Biografie zu einem Schlüsselmotiv. Es partizipiert, sichtlich gebrochen (durch Collage), vereinzelt und herausgelöst aus jeglichen syntaktischen Zusammenhängen (also Stellen in Zeitschriften, in denen es vorkommt), an der Rekonfiguration ihrer Heimatgeschichten. Und es erlaubt mir wieder querbeet zu reisen: durch Texte, Archive, Sekundärliteratur und meine eigene Familiengeschichte. Schließlich gibt die Arbeit an Atemschaukel Herta Müller die Gelegenheit, an der traumatischen Lagererfahrung ihrer Mutter zu arbeiten, so dass sie fehlende und verschwiegene Trümmer ihrer eigenen Biographie mütterlicherseits zusammentragen kann.
Grenzüberschreitungen, Mehrsprachigkeit und Geschichtsfetzen der deutschen Minderheit in Rumänien kennzeichnen folglich das Verständnis der neu beheimateten Fläche, die sich ansonsten aus heimisch klingenden bundesdeutschen Wörtern zusammensetzt. Müllers collagiertes Verständnis deutscher Landschaft präsentiert sich so als transnationales Ensemble von Einzelheiten, das Keime von Materialität, Wahrheit und Präzision in sich trägt. Die weitläufige Kartographie der verstreuten Stellen der „Mokkatasse“ belegt, dass Müller sich aus dem engen Kreis von Biographie, Schreiben und Erinnerung gelöst hat. Damit wird die „Mokkatasse“ als Wortgegenstand mündig und bewegt sich autonom zwischen nationalen Kontexten, literarischen Epochen und Texten hin und her, so dass sie nur flüchtig an einem Ort verankert wird. Schließlich wird das Geflecht aller Texte, in denen die „Mokkatasse“ vorkommt, zur collagierten Landschaft, welche die Leerstelle Heimat mit mobilen, transnationalen und materiellen Gegenständen füllt.
Ihre Anregungen holt sich die Autorin von außen, aus Zeitungen und bunten Prospekten. Darin offenbart sich, wie stark Herta Müller zur Interpretin (und Konsumentin) dieser Zeit geworden ist, die sich nicht scheut, auf das fremde Material einen eigenen Blick zu richten und es nach Bedarf mit eigenen Wortschöpfungen anzureichern. Darunter mischt sie immer wieder die alten unbehausten Wörter und erzeugt neuartige Wortlandschaften. Damit vollzieht Müller einen Schritt vom Schreiben in die Intermedialität, von einer fixen Autorschaft zu einer multiplen, mehrstimmigen Autorfunktion.
long process of growth … a journey, but not necessarily of an arrival (Joeres, Respectability xix)
Die vorhergehenden Darlegungen helfen vielleicht besser zu verstehen, warum es sieben Jahre dauerte, einen einigermaßen vernünftigen Rahmen für die Dissertation zu finden. Es half, die Widersprüche und Fragmente als ästhetisches Prinzip bloßzulegen. Daher verstehe ich Ruth-Ellens Äußerung sehr gut, dass ihr Denk- und Schreibprozess von einer unproblematischen Beschäftigung mit Frauenliteratur ausging, um sich später zu einer skeptischen, ambivalenten und komplexen Betrachtung zu entwickeln. Es erging mir—wie das obige Beispiel zeigt—ähnlich. Jedes Thema zu Müller, über das ich nachdachte und schrieb, wurde mit der Zeit komplexer und stellte eine Herausforderung dar. Dazu kam die biographische Verflechtung, die eine klare, analytische Trennung zwischen dem Gegenstand Herta Müller und der Interpretin (mir) unmöglich machte.
Nichts ist spannender als eine neue Herausforderung und heute arbeite ich als Landesbeauftragte USA für die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. aus Berlin. Das ist spannend, weil Länder, Kulturen und Sprachen (weiterhin) mehrschichtig sind. Reizvoll ist, einen Ort im Niemandsland zu gestalten, der zwischen deutscher Organisation, amerikanischen Projektpartnern, idealistischem Anspruch und gleichzeitig pragmatischer Verwaltungsarbeit hin- und herpendelt. Schließlich möchte ich meine besondere Affinität zu einer Organisation, die sich im In- und Ausland für die Belange des Friedensdienstes, der interkulturellen Begegnung und der Aussöhnung engagiert, herausstreichen. Bereits in meiner Kindheit im kommunistischen Rumänien hatte ich verstanden, wie wichtig eine Organisation ist, die sich um den Bildungsaustausch, den Dialog der Zivilgesellschaften und um die Verständigung von Menschen unterschiedlichster Kulturen auch unter schwierigsten politischen Bedingungen bemüht. Die Wertschätzung der Bildungs- und Versöhnungsarbeit von Non-profit-Organisationen wie der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. begründete meine Motivation als Mitarbeiterin junge Menschen und Mitstreiter*innen, die sich mit Idealismus für eine gerechtere und friedlichere Welt engagieren, zu betreuen. Angekommen bin ich noch lange nicht.
I used to envision a quite different book than the one I have now written. (Joeres, Respectability xix)
Ich wollte eigentlich ein ganz anderes Essay schreiben. Ich wollte darüber reflektieren, was seit unserer ersten Begegnung im Jahr 2000 bis zu unserem offiziellen Abschied im Jahr 2007 passiert ist. Ich habe Ruth-Ellen als engagierte feministische Lehrerin, Intellektuelle und Theoretikerin, die fest an Interdisziplinarität glaubt, erlebt. Ich habe sie darüber hinaus als erfahrene Redakteurin und kritische Leserin sowie unterstützende Doktormutter kennengelernt. Ihre Stimme hat sich für immer eingebrannt und hat tiefe Spuren in meiner Arbeit hinterlassen. Sie strahlte Empowerment aus, brachte mir Reflexivität bei und schuf eine besondere Art von interdisziplinärer feministischer Gemeinschaft. Stattdessen habe ich dieses Essay geschrieben. Eines, das sich auf mysteriöse Weise selbst entwickelt hat.
Works Cited
Clark, VèVè A., Ruth-Ellen B[oetcher] Joeres, and Madelon Sprengnether. “Revising the Word and the World.” Revising the Word and the World: Essays in Feminist Literary Criticism, edited by VèVè A. Clark, Ruth-Ellen B[oetcher] Joeres, and Madelon Sprengnether, The U of Chicago P, 1993, pp. 1–9.
Duden. Wörterbuch, www.duden.de/Rechtschreibung/Nachdenken. Accessed 31 Jan. 2020.
Henke, Gebhard. “‘Mir erscheint jede Umgebung lebensfeindlich.’ Ein Gespräch mit der rumäniendeutschen Schriftstellerin Herta Müller.” Süddeutsche Zeitung, 16 Nov. 1984, p. 13.
Joeres, Ruth-Ellen B[oetcher]. Respectability and Deviance: Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation. The U of Chicago P, 1998. Women in Culture & Society.
—, editor. Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung: Louise Otto-Peters. Frankfurt/Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1983. Frau in der Gesellschaft.
Müller, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Munich, Carl Hanser Verlag, 2003.
—. Reisende auf einem Bein. Rowohlt Verlag, 1989.
Olson, Gary A., and Lynn Worsham. Critical Intellectuals on Writing. SUNY P, 2003.
Schuller, Annemarie. “‘Und ist der Ort wo wir leben’: Interview mit Herta Müller.” Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen und Interviews zur deutschen Literatur in Rumänien, vol. 2, edited by Emmerich Reichrath, Cluj-Napoca, Dacia Verlag, 1984, pp. 121–25.
Stimpson, Catharine R. “Foreword.” Respectability and Deviance Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation, by Ruth-Ellen B[oetcher] Joeres, The U of Chicago P, 1998, pp. xv–xviii.
Wolf, Christa. Nachdenken über Christa T. Halle, Mitteldeutscher Verlag, 1968.
—. “Selbstversuch.” Gesammelte Erzählungen. Darmstadt, Luchterhand, 1981, pp. 158–85.
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